Durch die Generation der „Hippiezeit“, bei der die Menschen nun langsam in die Seniorenzentren kommen, wird es einen Wandel und eine andere Offenheit geben.
Oft sind Institutionen immer noch auf den Fokus der Heterosexualität ausgerichtet. In Zukunft wird ein Generationenwechsel stattfinden, bei dem sich alles komplett verändern wird. Neue sexuelle Ausrichtungen und Neigungen werden in Seniorenzentren Einzug nehmen. Mit der Sexualität wird in Zukunft sicher offener umgegangen werden, so, dass sich auch die Pflegeinstitutionen an den Anforderungen und den Bedürfnissen der Bewohner*innen orientieren und anpassen müssen.
Leitfaden für Pflegekräfte im Umgang mit LSBTI* Menschen
Was bedeutet LSBTI*geschlechtliche Vielfalt:
Oftmals sind Menschen in einem Klima aufgewachsen, bei dem die Sexualität durch Religion, Kultur und moralische Vorstellungen einen grossen Stellenwert hatte. Homosexuelle Frauen und Männer im dritten und vierten Lebensalter haben meist keine selbstbewusste homosexuelle Identitätsentwicklung vollziehen können, sondern im Gegenteil die gesellschaftliche Tabuisierung, Stigmatisierung und Diskriminierung erfahren. Diese können im Alter nachwirken und setzen sich in vielen Fällen fort. Dies widerspiegelt sich indem, dass sich die Betroffenen zurückziehen. Einige haben dazu grosse Sorge, im Alter von Dritten abhängig zu sein. Der Inanspruchnahme regulärer Angebote der Altenhilfe stehen viele skeptisch gegenüber – aus Angst, bei Pflegekräften wegen der sexuellen Orientierung diskriminiert zu werden.
LSBTI* Diskriminierungen gehören lange noch nicht der Vergangenheit an. Beschimpfungen oder tätliche Gewalt führen dazu, dass nicht heterosexuelle Personen ihre geschlechtliche und sexuelle Identität beispielsweise im Beruf oder im Pflegekontext nicht offen leben.
Alle Menschen haben das Recht ein selbstbestimmtes Leben zu führen und dementsprechend auch die Möglichkeit dafür zu bekommen.
Wussten Sie,
-
…..dass im Vergleich zu anderen westeuropäischen Ländern Schwule und Lesben in der Schweiz
-
deutlich weniger Rechte haben. Dabei stehen wir viel schlechter da als zum Beispiel Montenegro, Albanien oder das erzkatholische Irland. Bisher unveröffentlichte Erhebung der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) zeigen nun, dass Homophobie in Teilen der Schweizer Bevölkerung noch tief verwurzelt ist: Jeder zehnte Schweizer hält gleichgeschlechtliche Liebe für unmoralisch. Weiter sind 22,7 Prozent der Befragten gegen eine Ehe für alle. Diese Einstellung dürfte sich auch in Seniorenzentren widerspiegeln. Man geht in der Schweiz davon aus, dass ca. 10 Prozent LSBTI* Menschen leben. Tendenz steigend, da davon ausgegangen werden kann, dass in Zukunft sich immer mehr Personen outen werden?
-
…..dass über 90 Prozent der stationären Einrichtungen, die Bedürfnisse von LSBTI* bei ihren Angeboten nicht oder zu wenig berücksichtigen?
-
…..dass LSBTI* auch heute noch auf Grund ihrer sexuellen und geschlechtlichen Identitäten, sowie auf Grund ihrer angeborenen Geschlechtsmerkmale einem hohen Risiko an Diskriminierung ausgesetzt sind?
-
…..dass viele Homosexuelle, bisexuelle und Trans* in Seniorenzentren und Pflegeeinrichtungen ihre Sexualität und geschlechtliche Identität aus Angst vor Diskriminierung und Ausgrenzung verbergen?
Warum sollten sich Pflegeeinrichtungen für die geschlechtliche Vielfalt interessieren?
Nicht selten haben Pflegeeinrichtungen Vorurteile und Ablehnung gegenüber LSBTI* Menschen.
Im Gegenzug fürchten sich LSBTI* vor Ausgrenzung und Isolation und verschweigen oftmals ihre wahre Identität. Gesundheitliche Risiken und deren Folgen bleiben entsprechend unbeachtet.
Viele Pflegekräfte fragen sich, warum sie sich mit dem Thema sexuelle Vielfalt überhaupt beschäftigen sollen. Sexualität halten sie dabei für etwas privates.
LESBTI* ist nicht einfach eine sexuelle Orientierung sondern für die meisten eine Lebensform. So haben sie in der Regel eine feste Identität und sind ein Teil der Gesellschaft. Mit dem* der Partner*in wird nicht nur Sexualität erlebt, sondern auch der Alltag geteilt, vielleicht Kinder erzogen und Angehörige gepflegt. Auf Grund von Diskriminierungserfahrungen und einer Geschichte, geprägt von Kriminalisierung, Verfolgung und Pathologisierung, hat sich eine lesbische und schwule Kultur mit eigenen Werten und Normen innerhalb einer Mehrheitsgesellschaft gebildet (eigene Cafés, Clubs, Restaurants). Somit geht die sexuelle Vielfalt über die Lust hinaus und kann eine feste Verbindung zu einer Subkultur sein.
So kann man sich die Frage stellen: „Und Jetzt? Soll ich nicht alle Bewohner*innen gleich behandeln?“
Um alle Bewohner*innen gleich zu behandeln, müssen individuelle Unterschiede wahrgenommen werden können. Darunter fallen zum Beispiel die Gruppenzugehörigkeiten oder Identitätsmerkmale. Dass zum Beispiel eine Frau Mutter oder verwitwet ist, kann in der Pflege eine relevante Information sein. Dasselbe gilt aber auch für eine lesbische Lebensweise oder eine Geschlechtsangleichung.
Das gut gemeinte Gleichbehandeln kann zu einem „Unsichtbar-machen“ führen, wenn individuelle Lebenswege und –zusammenhänge ignoriert werden.
Eine wirklich gleichwertige Behandlung von Bewohner*innen setzt ein Wissen über deren vielfältige Lebenswelten voraus. So wird Pflege kultursensibel.
Kultursensible Pflege heisst:
-
Interesse an der Kultur von Personen zu haben.
-
Wissen über diese Kultur zu haben und zu kennen inwieweit die allgemeinen Regeln dieser Kultur das Individuum zutreffen.
-
eine Haltung einzunehmen, die die kulturelle Besonderheiten erkennt und anerkennt.
Wichtig ist, dass es nicht um einen Sonderstatus für LSBTI* geht, sondern um deren Inklusion. Es soll sich um Pflegeeinrichtungen handeln, die sich mit Bedürfnissen ihrer (zukünftiger) Bewohner*innen auseinandergesetzt hat, die Diskriminierung erkennt und eingreift. Letztlich, handelt es sich um eine LSBTI*-freundliche Einrichtung, in der es möglich ist, offen über sexuelle und geschlechtliche Identität zu sprechen.
Bedenken Sie, dass LSBTI* beim Kennenlernen neuer Menschen immer vor der Frage des Outings stehen und für sich abwägen müssen, ob ein Outing sicher ist oder ob es zu Diskriminierung führen kann. Diese Situation insbesondere im Kontext der Pflegebedürftigkeit ist für LSBTI* mit enormen Stress verbunden (Minderheitenstress). Schaffen Sie daher eine offene Atmosphäre, die es LSBTI* erleichtert, sich im Aufnahmegespräch oder bei der Biografiearbeit zu outen. Dies gelingt beispielsweise, indem Sie offene Fragen stellen und nicht etwa Fragen, die Heterosexualität implizieren. Fragen Sie Frauen nicht mehr automatisch nach ihrem Ehemann oder Männer nicht automatisch nach ihrer Ehefrau, sondern nach wichtigen Beziehungen. Offene Fragen machen es Klient*innen und Bewohner*innen leichter, über ihr Leben zu sprechen, das möglicherweise anders als das der Mehrheitsgesellschaft verlaufen ist.
Aufgrund unzureichender Wissensvermittlung in der Pflegeausbildung aber auch allgemein in Pflegeinstitutionen sind daher Fortbildungen von enormer Bedeutung. Zugleich zeigt die Implementierung von Fortbildungen zum Thema LSBTI* die generelle Haltung der Einrichtung: Vielfalt in allen Lebensbereichen wird akzeptiert, LSBTI*-Feindlichkeit sowie Diskriminierung wird in der Einrichtung nicht toleriert.
Demenz und seine Tücken bei LESBTI*
Im frühen Stadium der Demenz besteht insbesondere für lesbische und schwule Menschen häufig die Besorgnis, nicht zu wissen, ob und wie offen sie sich bereits als solche gezeigt bzw. welche „Geschichten“ sie erzählt haben, um nicht in ihrer sexuellen Identität „erkannt“ zu werden. Ein erst kürzlich stattgefundenes Coming-Out oder eine zeitnah durchgeführte Geschlechtsangleichung werden vergessen. Die unterstützende Person, (z.B. Freund*in, Nachbar*in) wird unfreiwillig geoutet. Es kann passieren, dass sich die Betroffenen aufgrund der Demenz an Beziehungen aus früheren Lebensphasen besser erinnern als an die gegenwärtige Partnerschaft. Waren diese heterosexuell, fühlen sich die aktuellen Partner*innen möglicherweise zurückgewiesen und gekränkt. Die Geschlechtsangleichung der unterstützenden Person – z.B. der Partner*in – wird seitens der betreuten Person vergessen. Trans*Personen vergessen, ihre Medikamente zu nehmen, was z.B. zu einer Zunahme des Risikos, Osteoporose zu bekommen, führen kann. Trans* Personen vergessen möglicherweise, dass sie ihr Geschlecht angeglichen haben und wissen nun nicht mehr, welche Toilette sie benutzen können.
Positive wie auch traumatische Erinnerungen von früheren Zeiten rücken vermehrt in den Mittelpunkt und können Lebensphasen vor dem Coming-out betreffen. Die damit einhergehenden Gefühle haben Auswirkungen auf aktuelles Befinden und lösen z.B. Depressionen, Trauer oder auch Hochgefühle aus. Da seitens des Pflegepersonals auf dementiell erkrankte Menschen mehr achtgegeben wird, nimmt die Furcht, „entdeckt“ zu werden, zu. Dies gilt in gleichem Masse für Partner*innen wie auch Mitglieder der Wahlfamilie. In der Demenz wird die Sprache oft sehr einfach, direkt und die Hemmungen sowie Schamgefühl gehen dabei wieder verloren. So besteht die Möglichkeit, dass eine bisexuelle Frau z.B. einer Bewohnerin einer oder weiblichem Personal romantische Avancen machen. Schwule Männer entdecken plötzlich ihre früheren Bi-Neigungen wieder.
Besondere Herausforderung für das Pflegepersonal
Inter* Personen werden oftmals geschlechtsverändernden medizinischen Eingriffen unterzogen, die sie nicht selbstbestimmt gewählt haben. Im Alter sind trans* und inter* Menschen nochmal mehr auf kenntnisreiche und respektvolle Pfleger*innen angewiesen.
Nichtnormative Körperbilder veranlassen, dass Dritte mitunter abfällig über diese sprechen. Weitere Abwertungen sind z. B. falsche Anrede, Exotisierung („so Interessant“ / „so speziell“) und die Missachtung von geschlechtlicher Selbstbestimmung.
Diese Hintergründe erklären, warum viele – insbesondere ältere – lesbische, schwule, bisexuelle sowie trans* und inter* Menschen ihre sexuelle bzw. geschlechtliche Identität nicht offen legen.
Was können Sie als Pflegekraft tun?
-
Begegnen Sie den LSBTI* Bewohner*innen mit Wertschätzung auf Augenhöhe und vorurteilsfrei.
-
Beachten Sie die Selbstdefinition der Bewohner*innen und übernehmen Sie die Begriffe mit denen sich die Bewohner*innen wohlfühlen.
-
Unterstützen Sie bei Diskriminierung die Betroffenen.
-
Stellen Sie offene Fragen (z.B. Leben Sie in einer Beziehung?) an Stelle von Fragen die Heterosexualität implizieren (z.B. nach einem Ehemann)
-
Verwenden Sie den Namen und das Pronomen, mit dem sich die Person identifiziert, auch wenn keine offizielle Namensänderung stattgefunden hat. Wenn Sie sich nicht sicher sind, fragen Sie vertraulich nach dem bevorzugten Pronomen.
-
Verwenden Sie auch in Abwesenheit der Bewohner*innen, beispielsweise in Gesprächen mit Kolleg*innen die bevorzugten Namen und Pronomen der Bewohner*innen. Dies ist nicht nur wertschätzend, sondern gibt Ihnen auch einen selbstverständlichen Umgang mit LESBTI* Bewohner*innen.
-
Bedenken Sie, dass vor allem ältere LSBTI* von ihrer Herkunftsfamilie Ablehnung erfahren bzw. haben seltener eigene Kinder als ältere heterosexuelle Menschen.
-
Recherchieren Sie Angebote für ältere LSBTI* in Ihrer Umgebung und holen Sie sich Unterstützung von externen Fachpersonen und LSBTI* Organisationen.
Reto Kneubühler, SEIMA.ch